Leseprobe (aus dem Roman “Katze mit Floh” )

01 Bekanntschaften
Es war einer jener lauen Spätsommerabende, in denen die Grillen zirpten und die Kater maunzend um das Fenster der rolligen Katzendamen streiften. Einer jener Abende, an dem es früher abkühlte und die Sonne sich, müde von der Arbeit des Jahres und dieses speziellen Tages, früher zur Ruhe begab. Sie hatte die Welt freundlich und hell werden lassen, den blauen Himmel anstrahlen, Wolken und Nebel verdunsten und Wäsche trocknen müssen – ganz neben der Arbeit, den Menschen Wärme und gute Laune zu bringen. ‚So gesehen eine ganze Menge zu tun’, dachte ich mir und nickte ihr freundlich zum Abschied zu.
„Gute Nacht, Sonne, erhol dich gut, damit wir uns morgen auch noch sehen können“ sagte ich ihr leise hinterher und sah zu, wie sie langsam hinter dem Horizont verschwand. Dann stand ich auf, rückte die Gartenstühle zurecht, nahm das Tablett mit den leeren Gläsern und ging im Zwielicht des Abends zurück ins Haus. Die Küchentür stand wie immer weit offen bei mir. Diebe und Unholde fürchtete ich nicht, denn diese Gegend war für solche Berufsgruppen zu schwer erreichbar – und jeder Fremde fiel hier sofort auf.
Statistisch gesehen war ich die einzige allein stehende Einwohnerin auf der Insel mit dem schönen Namen Balje, ein winziger Fleck Erde, der rund 30 Höfe, einen kleinen Hafen mitsamt Marktplatz, Postamt und einem Tante-Emma-Laden beherbergte. Die Kinder zogen fort von hier, wenn sie großjährig wurden, nur die blieben, die die Höfe der Eltern übernehmen wollten, warum, war für jeden verständlich, der dort eine Weile blieb: Hier gab es kein Kino, keine Diskothek, McDonalds & Co. dachten gar nicht daran, hier Filialen zu eröffnen – die Zielgruppe war zu klein. Also kochte hier jeder für sich selbst, es sei denn er folgte einer Einladung, und Unterhaltung lieferten Nachbarn, Bücher, Fernseher und das gute alte Radio. Internet gab es hier selten, und ich war eine der wenigen, die es regelmäßig nutzten. Es funktionierte ganz gut über eine Satellitenverbindung, bei mir noch besser, da ich oben auf meinem Leuchtturm näher am Himmel und freier von Störungen war. Zumindest bildete ich mir das ein, ob das wirklich stimmte, hätte ich nicht mit Bestimmtheit sagen können.
Es hatte zwar rund 40 Jahre gedauert, aber ich verfolgte mein Ziel, in einer stillen Gegend am Meer zu leben, hartnäckig und ließ nicht nach und so war ich vor rund zwei Jahren endlich hier angekommen: Ich konnte ein altes Leuchtturmwärterhäuschen mitsamt Leuchtturm mein Eigen nennen, renovierungsbedürftig zwar, aber meins, und Stück für Stück arbeitete ich mit Hilfe einiger bekannter Handwerker alle bedenklichen Stellen wieder auf. Heute war kein Handwerker da, es war Wochenende und selbst die Fähre stellte dann ihren Betrieb ein, ein Umstand, der alle Einwohner verärgerte, denn gerade am Wochenende wären sie gerne mal ans Festland gefahren, hätten größere Einkäufe erledigt, Verwandte besucht und wären zur Messe gegangen. Die Jüngeren wollten etwas anderes sehen, tanzen, essen gehen, Opern oder Musicals anschauen – oder sich auch einen passenden Lebenspartner suchen. Die Motivationen waren mannigfaltig, aber der alte Piet, der Inhaber der Fähre stellte sich stur. „Am Tag des Herrn sollst du ruhen und nicht vergnügte Dinge tun“, pflegte er denen entgegenzuhalten, die ihn darauf ansprachen. Bei ihm hörte sich das eher so an: „Äam Toag des Heärn sollsu ruhun.. un nech vergnügde Dingä tuon“. Hamburger war er, und er pflegte seinen Dialekt, während sich der Rest der Insulaner um ein gepflegtes Hochdeutsch bemühte. Piets Ausspruch war für die meisten meiner Nachbarn eine reine Provokation, und heimlich ärgerten sie sich fast schwarz, dass sie ihm nicht beweisen konnten, dass er gerade durch diesen merkwürdigen Fahrplan die Kirchen sabotierte, denn schließlich konnte so niemand zum Festland um dort einer Messe beizuwohnen. Piet war eins jener Originale, die sich trotz Ecken und Kanten aalglatt durchs Leben schlängelten – jeder wusste, dass er ein Filou war, niemand aber konnte ihm etwas beweisen geschweige denn böse sein. Die Sorte Mensch, die ich mochte, und daher lud ich Piet immer auf einen Kaffee und nen Kööm ein, wenn er bei mir die Post vorbeibrachte. Dass er meine Post abfing und mir persönlich brachte, hatten wir gleich am ersten Tag vereinbart, als er mich hier hinüber schipperte. Wir hatten gleich einen Draht zueinander, und so lehnte er sich auf der rund vierstündigen Fahrt irgendwann vertraulich zu mir herüber und raunte mir zu – nicht ohne sich auf dem sonst völlig menschenleeren Deck noch einmal misstrauisch umgesehen zu haben: „ Die Leute hier sind komisch. Die beobachten dich, kleine Deern, und wenn die erst mal deine Post in den Fingern haben…“ er schaute sich noch einmal um, theatralisch und mit sturmumwölktem Blick wandte er sich nach dieser Kunstpause wieder mir zu: „ Wasserdampf… du verstehst…?“
Ich sog erschrocken die Luft ein und flüsterte ihm, innerlich amüsiert zu: „Du meine Güte, Käpt’n Piet…. Abgründe tun sich ja auf, Abgründe!!“ Er nickte ernst und betrübt. „Das Beste wird sein, kleine Deern, wenn ich die Post gleich zu dir bring. Ist ja nicht weit, und den alten Leuchtturmwärter und seine Frau hab ich auch immer da besucht.“ Ich empfand das als eine ausgezeichnete Idee, denn so musste ich nicht immer zum Postamt runter und hatte gleich noch regelmäßig netten Besuch.
So saß er dann da, kippte in einem scheinbar unbeobachteten Moment den Kööm in die Kaffeetasse und nippte fortan nur am Kaffee, während wir miteinander über diese Insel, die Bewohner, das Leben und Gott und die Welt plauderten. Wenn er dann wieder weg war, schüttete ich die fast noch volle Tasse Kaffee weg und lächelte. Wir beide wussten, dass er weder Kööm noch Kaffee mochte, aber das gehörte sich für einen harten Kerl wie Käpt’n Piet nun mal.
Auch in der vergangenen Woche hatte er mich besucht. Hatte die Post abgeliefert. Ungewöhnlich still und ernst war er, rührte in seiner Kaffeetasse herum und ließ sich den Dunst des heißen Kaffees um die Nase wehen. Ich saß ihm gegenüber und betrachtete ihn. Sein von Wind und Wetter gegerbtes Gesicht musste einmal recht attraktiv auf junge Damen gewirkt haben, denn noch immer konnten die tiefen Falten und die raue Haut seinen Charme nicht verdecken. Durch die tägliche Arbeit auf seiner Fähre war sein Körper gut durchtrainiert und auch wenn er sein Alter nicht leugnen konnte, war noch so viel Dynamik in ihm, um etliche Frauen dazu zu bringen ihm nachzuschauen.
Am meisten mochte ich seine ständig zerzausten Haare, die bereits mehr grau als blond aufwiesen und ihm in die Stirn fielen, wie um seine klugen Augen zu verdecken, die immer sagten, was er fühlte. Heute drückten sie Trauer aus, Bedauern und Nachdenklichkeit. Irgendetwas musste geschehen sein, und ich fragte ihn danach. „Ach min Deern… das ist was, was du nicht verstehen wirst. Die Katze muss man selbst erlebt haben. Aber nun ist sie weg, und ich weiß, dass auch meine Zeit nu bald gekommen sein wird.“ Diesmal war meine Erschrockenheit nicht gespielt, als ich nachhakte, was das denn dort auf sich habe, mit der Katze und seiner Zeit.“ Er aber schüttelte nur seinen Kopf und schaute zu Boden. „Du wirst sie kennen lernen, denn das hat sie mir noch gesagt.“ Eine scheinbare Unendlichkeit sah er mich an, schweigend, prüfend, und dann nickte er. „Achte auf eine Katze mit Hut“ lächelte er noch, stand auf und ließ mich dort sitzen, völlig verwirrt und gleichzeitig traurig, denn ich ahnte, dass er nicht mehr wieder kommen würde.
Tags darauf teilte mir die Dame vom Postamt mit, dass Käptn Piet das Zeitliche gesegnet hatte. Er hatte sich an diesem Abend, an dem er sich von mir verabschiedete, in seine Hängematte auf seiner Fähre gelegt, die Hängematte, die er an Deck hatte anbringen lassen, damit er abends noch die Sterne am Himmel betrachten konnte. Dort war er eingeschlafen, still, einsam, für sich – so wie ich ihn kannte, und nicht wieder aufgewacht. Heute war die Beerdigung gewesen, und ein paar der Gäste waren noch mit zu mir gekommen, weil sie den Weg in ihr eigenes Heim gescheut hatten. Vor gut einer halben Stunde war auch der letzte Gast gegangen, und ich hatte die Stille in meinem kleinen Garten wieder einmal aufs Neue schätzen gelernt.
In der Küche spülte ich die Gläser und Tassen und bereitete mir ein leichtes Abendmahl. Ich aß ganz gemütlich, so wie immer, aber meine Gedanken weilten immer noch bei Piet, ich vermisste ihn. Ich beschloss, noch einen kleinen Gang durch meinen Garten zu machen. Die Blumenbeete waren mit fast antiken Küchenwerkzeugen dekoriert, und ich holte eins ums andere heraus, prüfte es auf seine Funktionsfähigkeit und arbeitete es wieder auf, damit es Platz in meiner Küche fand. Mit den Jahren war ich doch recht eigenwillig, was Elektrogeräte beim Kochen betraf, und so wanderten immer mehr Stromfresser auf den Müll und wurden durch die Funde ersetzt, die mir auf meiner Schatzsuche in die Hände gefallen waren. Also lief ich langsam über den Rasen, bewunderte die Blumen und Blüten und hielt Ausschau nach etwas, was mir noch nicht untergekommen war.
Als ich wieder zurück zu meiner Küchentür kam, stoppte ich abrupt: Mitten auf der Schwelle zu meinem kleinen Reich saß sie, die Vorderpfoten nebeneinander gestellt und den Schwanz mit der weißen Spitze ordentlich um sich gerollt und schien auf mich gewartet zu haben. Ihr Fell war rabenschwarz, bis auf die Brustplatte, die Schwanzspitze und die linke, vordere Pfote. Die strahlten mir in sauberem Weiß entgegen, blank geputzt und ordentlich in Richtung Strich gestriegelt, es schien fast so, dass sie sich für einen Antrittsbesuch besonders ansehnlich ausstaffiert hatte. Darauf wies auch der Hut hin, der auf ihrem Kopf thronte, in feurigem Rot, mit schwarzem Hutband und einer ansehnlichen Schnalle verziert. ‚Eine Katze mit Hut’, dachte ich erheitert. ‚Dass ich so was wirklich mal zu sehen bekomme…’
Schlagartig wurde ich ernst, denn ich erinnerte mich der Worte des alten Piets, die letzten, die er an mich richtete: „Achte auf die Katze mit Hut“ hatte er gesagt, und nun, am Abend seiner Beerdigung, saß sie bei mir, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt.
„Da brat mir doch einer nen Storch“, entfuhr es mir, ich war völlig konsterniert, kam mir vor als hätte ich eine Begegnung mit der dritten Art. Sie hob langsam den Kopf und sah mich aus schmalen Augen an, prüfend, als wolle sie erst einmal feststellen, ob ich es überhaupt wert sei, diesen Besuch von ihr zu erhalten. Dann stand sie gemächlich auf, drehte sich um, stolzierte in meine Küche und warf mir lässig über die Schulter entgegen: „ Storche fallen unter das Naturschutzgesetz. Die sollten Sie besser nicht Ihrem Speiseplan hinzufügen.“ Verblüfft folgte ich ihr, halb amüsiert darüber, wie zweifelsfrei sie sich selbst einlud, denn es sollte noch besser kommen. „Ich trinke am liebsten ein Schälchen Milch, und wenn Sie dann bitte noch die Güte hätten, ab und an ein Schälchen gekochtes Hühnerfleisch für mich bereit zu halten, wäre ich Ihnen zu äußerstem Dank verpflichtet.“
‚Aha’, dachte ich, ‚die Dame stellt Ansprüche’ und musste mir ein Schmunzeln verkneifen. Aber inmitten dieser Gedanken gefror mein Lächeln von allein: Eine Katze mit Hut war schon seltsam, aber…. „Warum kannst du … Verzeihung, können Sie sprechen?“
Elegant sprang sie mit einem Satz in meine Rattanschaukel, die ich mit auf die Insel gerettet hatte, mein Lieblingssessel und gleichzeitig das einzige Möbelstück, das ich nicht neu anschaffte, war es doch ein Geschenk von einer besonders lieben Freundin, die mich ab und an besuchen kam. Sie hob ihre weiße Pfote und begann sie intensiv zu putzen, als wäre meine Frage völlig nebensächlich und belanglos. In ihren Augen musste das wohl auch so sein, schließlich war es für sie nichts Besonderes, dass sie sprechen konnte. Nur ich war überrascht, und ungläubig sah ich ihr und ihrem Ritual zu. Als sie endlich ihr Werk vollbracht hatte, wandte sie, wenn auch nur kurz, ihre Aufmerksamkeit mir zu.
„Sie haben keine Milch im Haus, deute ich das richtig oder sind sie nicht gewillt, mir Ihre sprichwörtliche Gastfreundschaft anheim zu stellen?“
Ich holte tief Luft, stieß sie langsam aus und ging zum Kühlschrank.
„Wenn Sie die Milch aus dem Kühlschrank nehmen, empfehle ich sie ein wenig aufzuwärmen, denn kalte Milch vertrage ich überhaupt nicht, meine Gute.“
Die Stimme aus dem Hintergrund brachte mich langsam zur Weißglut, und ich drehte mich um und starrte zu ihr herüber: „Hat die Dame sonst noch Wünsche? Vielleicht noch bestimmte Präferenzen bezüglich des Schälchens?“
Ich war sicher, dass sie grinste. Ihre Schnurrhaare zuckten und sie zog die Augen zu zwei schmalen Schlitzen zusammen, ihre Stimme (Himmel, ich unterhielt mich tatsächlich mit einer Katze mit Hut!) klang sichtlich amüsiert, als sie mir gemächlich antwortete: „ Nun denn, wenn Sie mich so fragen… Porzellan wäre nicht schlecht. Plastik empfinde ich nahezu als unanständig.“
Ok, ich hatte es so gewollt. Ich hätte nicht fragen sollen. Und dennoch versuchte ich, ihr in ihrer Unverschämtheit einen Dämpfer zu versetzen. „Ich könnte Ihnen einen Blechnapf anbieten.“
Das nun folgende Schnauben hatte ich erwartet, und ich grinste mir heimlich eins, während ich die Milch vorsichtig aufwärmte. Natürlich nahm ich eine meiner guten Teeschalen, füllte sie zur Hälfte mit der erwärmten Flüssigkeit und mischte dann noch ein wenig Quellwasser hinzu.
Balje hatte einen unschlagbaren Vorteil gegenüber anderen Inseln. Hier gab es einen kleinen Fluss, der von einem winzigen Hügel entsprang und völlig salzfrei war. Der Legende nach war dieser entstanden, als die Insel einst von Piraten belagert wurde. Keiner konnte das Eiland verlassen um Trinkwasser vom Festland zu besorgen und so war der Hofverbund mit seinem Vorsitzenden beinahe gezwungen, den maßlosen Forderungen der Freibeuter zuzustimmen. Eine Gruppe jüngerer Kinder wurde im Wäldchen auf dem Hügel versteckt, und durch ein Unglück verloren sie ihre Lebensmittel an die wilden Tiere. So begannen sie vor lauter Hunger nach Wurzeln zu graben. Das Wunder geschah, und eine der Kinder stieß bei der Graberei auf eine Quelle. Das Wasser schoss laut der Legende im Hohen Bogen hervor und bedeckte die kleine Senke, bis ein kleiner See entstand, der irgendwann überlief und sich einen Weg bis zum Inselufer suchte. Die Einwohner waren gerettet, die Piraten mussten unverrichteter Dinge wieder abziehen.
Die Quelle gab es heute noch und jeder Einwohner bezog von dort sein Trinkwasser. Dies mischte ich nun in die Milch, um sie zu entfetten. Die kleine schwarze Gestalt im Hintergrund beobachtete jeden Handschlag von mir und begann zufrieden zu schnurren. Offensichtlich war sie mit meiner Rezeptur einverstanden und so setzte ich die Schale vor sie auf den Boden, sie sprang herunter und nippte daran, damenhaft, zierlich, so wie man es von einer Dame erwarten konnte.
„Darf ich denn nun eine Antwort auf meine Frage erwarten?“ setzte ich das begonnene Gespräch fort, bemüht, meine Neugier in Höflichkeit zu kleiden, und wieder hatte ich das Gefühl, dass ich sie amüsierte, als hätte sie mich durchschaut…
„Wenn es denn von so großer Wichtigkeit ist, werde ich Ihnen gerne Auskunft geben.“ Ich wollte sie abwiegelnd beschwichtigen, aber sie hob energisch eine Pfote und ließ sich nicht unterbrechen. „Nein nein, das geht ja allen so, die diese Eigenheit an mir feststellen können. Besser, wir bringen dieses Thema gleich vom Tisch, dann ist Ihr Misstrauen beseitigt und wir können uns interessanteren Themen widmen.“
Und so begann sie zu erzählen. Erzählte von ihrer Geburt neben der Quelle in den Wäldern, wie der warme Sommerwind ihr nasses Fell trocknete und sie die Geborgenheit des mütterlichen Fells suchte. Ihr Bericht ging weiter, über Spiele in den sonnenbeschienenen Wäldern, kühlen Nächten, die der ganze Wurf eng aneinander gekuschelt verbrachte und dem Schrecken des Fuchses, der ihre Mutter riss, viel zu früh, viel zu schnell. Die Jungen bemühten sich, beieinander zu bleiben, doch ohne die nährende Muttermilch verhungerte ein um das andere der kleinen Kätzchen. Sie schaffte es nur, weil sie sich vom Wasser der Quelle ernährte, den Fluss hinabwanderte und so an einer Menschensiedlung ankam. Warum sie das alles verstand, was dort gesprochen wurde, konnte sie auch nicht erklären, aber mit der Zeit lernte sie, den Menschen zu antworten, denen sie vertraute.
„Nicht alle können mich verstehen, aber bei manchen ist es so, dass sie die Fähigkeit dazu haben. Manchmal frage ich mich, ob nicht die Frage berechtigt wäre, warum sie es können, nicht, warum ich sprechen kann“ beendete sie ihren Bericht.
Ich saß da und dachte einen Moment nach.
Da hatte sie nicht ganz Unrecht. Wenn es wirklich so war, dass nicht alle die Katze mit Hut verstehen konnten – und das nahm ich ihr ab, denn sonst würde sie sicher schon von allen gejagt – warum dann ich? Ich überlegte, ob sie mir die Frage beantworten könnte, und ehe ich mich versah, hatte ich sie gestellt, war sie raus und schwebte langsam zwischen uns auf den Boden.
Sie sah mich an, prüfend, noch einmal, und ihre Schnurrhaare begannen wieder zu zucken. Ich ahnte, dass sie meine Frage als erheiternd empfand und dennoch ernst nahm.
„Nun kommen wir endlich zu einem interessanten Thema. Wie entwickelt man Glauben in Unmögliches? Ist es ein Traum, ist es Naivität? Oder ist es einfach die Offenheit, die manche Menschen dazu bringt, auch das zu glauben, was nicht sein darf?“
Ich überlegte nicht lange, denn genau dieses Thema war eines, das mich schon seit längerem bewegte. „Das Gute zu sehen und zu glauben ist nicht jedem gegeben. Ich denke, es liegt an den eigenen Erfahrungen. Je häufiger das Vertrauen verraten wurde, je häufiger man Enttäuschungen erlebt hat, desto misstrauischer und ungläubiger werden wir. Wer aber in frühen Jahren vertrauen konnte, durfte, der wird auch im hohen Alter immer noch daran glauben können, weil dieses Urvertrauen fest verankert blieb.“
„Und dennoch werden solche Menschen als versponnen abgetan, verlacht und nicht mehr ernst genommen. Warum glauben sie weiterhin?“
Wieder fiel mir die Antwort leicht. „Es ist wie Fahrradfahren. Das lernt man einmal, und danach kann man es immer, auch wenn man mal fällt.“ Ich erinnerte mich an eine Begebenheit mit einem meiner Söhne, als sie klein waren. Der kleine Mann war mit mir um die Wette heim gefahren, stolz darauf, sich mit seinem Rädchen schon in der großen Welt bewegen zu dürfen. Mitten im Eifer des Gefechtes verhaspelten sich seine Füße, das Fahrrad kippte und beide fielen gemeinsam um. Die Schrammen brannten höllisch, er weinte laut, und doch waren wir noch ein gutes Stück vom zu Hause entfernt. Erst wollte er schieben, traute seinem Rad, seinen Fähigkeiten nicht mehr. Aber plötzlich stieg er wieder auf, gab all seine Kraft und Energie darein, das „Rennen“ noch zu gewinnen. Er hatte das Vertrauen in seine Fähigkeiten nicht verloren, und so ging er auch weiter durch sein Leben. Er probierte aus, fiel, wütete – und stand wieder auf.
Ich hatte nicht bemerkt, dass ich diese Erinnerung laut erzählt hatte, aber die Katze mit Hut schaute mich an und nickte.
„Ich darf mich vorstellen“, sagte sie. „Mein Name ist Lady Hennie, der Name wurde mir in vielen Jahren angepasst.“
„Angepasst?“ lachte ich. „Wie bekommt man einen Namen angepasst?“
„Nun“, sie stand auf und streckte sich. „Das ist eine längere Geschichte, die ich Ihnen bei meinem nächsten Besuch berichten werde.“
Sie sprang von meinem Lieblingssessel, der nun ihr bevorzugter Platz sein würde und strich mir zum Dank einmal kurz um die Beine, bevor sie mit hocherhobenem Haupt aus meiner Küche stolzierte, das Versprechen eines Folgebesuches sorgsam auf meiner Türschwelle hinterlassend, in die Nacht hinaus.

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dahin geschmolzen

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Leseprobe….

Der Wind zog mit seiner Regenpeitsche heulend über die Fenster. Es klang schon lange nicht mehr romantisch und anheimelnd sondern stellte eher in bedrohlicher Art und Weise einen Weltuntergang in Aussicht. Niemand, aber auch wirklich niemand würde bei einem solchen Wetter freiwillig vor die Tür gehen.

„Nun, freiwillig gehe ich auch nicht raus“, dachte sie grummelnd, während sie ihre Stiefel anzog und nach ihrer Einkaufstasche griff. Das Wetter hielt sich nun schon mehrere Tage und sie brauchte dringend ein paar frische Lebensmittel. Missbilligend sah sie sich in ihrer Wohnung um und rümpfte die Nase. Nicht nur sie brauchte frische Luft…

„Wie soll man bei dem Wetter ein gutes Raumklima erhalten?“ fragte sie sich laut, ärgerte sich aber über die abgestandene Luft und beschloss, erst einmal tüchtig zu lüften, bevor sie aus dem Haus ging. Sie öffnete das große Fenster in ihrem Wohnzimmer und stellte sich daneben, um es festzuhalten. Schließlich wurde ja davor gewarnt, dass der Sturm die Fenster sich riss, wenn man sie offen hielt.

„Fünf Minuten sollten reichen“, überlegte sie und schaute hinaus in den dunkelgrauen Tag. Eigentlich sollte es um diese Uhrzeit noch nicht so düster sein, aber die Sonne hatte keine Chance gegenüber den dichtschwarzen Wolken. Finster blickte Iona durch die Öffnung, versuchte abzuschätzen, wie nass sie gleich wieder heimkommen würde. Das Ergebnis gefiel ihr überhaupt nicht, aber schließlich konnte sie weder fliegen noch zaubern, sonst hätte sie sich entweder über den Wolkenbruch erhoben und wäre zum Supermarkt geflogen – oder sie hätte sich die wichtigsten Dinge her gezaubert.

Wie um diese Wünsche zu bestätigen, blitzte es unvermittelt. Die Stirn runzelnd wartete Iona auf den dazu gehörigen Donner, doch der folgte nicht. Aufmerksam geworden starrte sie in die Richtung, aus der der Blitz aufgetaucht war, aber es war nichts mehr zu sehen. Es fröstelte sie, aber sie schob es auf die kühle und feuchte Luft, die nun in das Zimmer gezogen war, und schloss mit einem energischen Druck das Fenster.

Achselzuckend suchte die junge Frau ihre Sachen zusammen und zog sich weiter an. „Wahrscheinlich ein Unfall oder ein Wahnsinniger, der sich bei dem Wetter auf Fotosafari herumtrieb“, tat sie diesen kleinen Zwischenfall ab, auch wenn ein unbehagliches Gefühl blieb. Irgendetwas stimmte da nicht. Der Blitz war zu groß, zu grell gewesen um von einem Fotoapparat zu stammen, und bei einem Unfall mit einer Explosion hätte nun noch etwas zu sehen sein müssen. Aber half nichts: Es machte keinen Sinn weiter darüber nachzudenken. „Das bekommst du eh nicht raus, also kümmere dich lieber um das wichtigste und hol das ein, was du fürs Wochenende brauchen wirst“, wies sie sich selbst zurecht und stürzte sich heldenhaft in das Unwetter, um auf dem kürzesten Weg zum Einkaufscenter zu gelangen.

Das Zwielicht, die Geräusche der vom Unwetter gebeutelten Bäume, der an ihr zerrende, wütende Wind spielten ihrem Nervenkostüm einen Streich nach dem anderen. Mal glaubte sie, schemenhafte Gestalten unweit von sich zu erkennen, mal hörte sie ein Aufkeuchen, mal hatte sie auch einfach nur das Gefühl beobachtet zu werden. Die ganze Situation kam ihr surreal vor und sie stemmte sich noch energischer gegen den Wind, um endlich schnell in die warmen und hellen Räume ihres Lebensmittelhändlers zu gelangen, und so war sie völlig erschöpft, als sich die Türen endlich hinter ihr schlossen.
Erleichtert atmete sie auf, trödelte extra lange beim Gang durch die Regale und stellte fest, dass es vielen so ging wie ihr. „Arme Schweine“, dachte sie. „Die müssen wohl genauso wie ich zu Fuß wieder nach Hause.“ Der Gedanke tröstete sie irgendwie, denn einerseits zeigte er ihr, dass sie nicht allein mit diesem Problem war und andererseits erklärte er auch das Gefühl, das sie auf dem Weg hier her empfand. Natürlich war sie nicht beobachtet, verfolgt worden. Die Geräusche und vagen Anblicke waren einfach nur andere Menschen, die mit dem gleichen Ziel wie sie aus dem Haus gegangen waren. „Wahrscheinlich fühlten die sich dann auch von mir verfolgt“ grinste sie in sich hinein und schüttelte endgültig diese unangenehmen Hirngespinste ab.

Aber auch so missfiel ihr immer noch die Vorstellung, da wieder hinaus zu müssen, denn der Sturm wütete weiter mit ungebrochener Kraft, und so blieb sie ihrer Trödelei treu, stöberte in den Angebotskörben und genoss das Gefühl der vorübergehenden Sicherheit. „Käse“, schoss es ihr durch den Kopf. „Wenn ich die Zucchinicremesuppe heute Abend kochen will, brauche ich noch Schmelzkäse. Ach ja, und Ingwer“ überlegte sie weiter, während ihre Hand zu der gewohnten Großpackung fettarmen Schmelzkäse griff.

„Dieser Käse wurde auf mehrfache Art und Weise nachbehandelt, damit ihm das böse, böse Fett entzogen wird, das ihr Gutmenschen immer verteufelt. Statt euch zu bewegen, reduziert ihr lieber das, was der Körper von euch verlangt – schon ziemlich ambivalent, nicht wahr?“ Mitten in ihrer Bewegung erklang diese samtige, leicht spöttische Stimme direkt hinter ihr. Mit einem erstickten Aufschrei versuchte sie sich dieser unerwünschten Nähe zu entziehen, doch vor ihr war das Regal, und links und rechts von ihr hatten sich zwei Arme an den Regalböden aufgestützt, die ihr ein Entkommen unmöglich machten. „Light-Produkte sind nicht so gut wie ihr Ruf, Teuerste“, fuhr die Stimme spöttisch fort, „nehmen Sie normale Produkte und davon nicht so viel, dann sind sie immer auf der richtigen Seite.“
Iona schloss einen Moment lang ihre Augen und atmete tief durch. Dann drehte sie sich mit einem Ruck um und wollte ihm ihre Meinung sagen – aber da war niemand. Wahrscheinlich war dieser freche Kerl gerade in dem Moment weiter gegangen, als sie die Augen geschlossen hatte. Gut, dann schonte sie ihre Stimme, wenn sie ihm nicht die Meinung über sein unverschämtes Verhalten sagen musste. Sie zuckte mit den Schultern und ging zum Einkaufswagen, legte das kleine Paket Gouda-Schmelzkäse hinein.
Dann stutzte sie.
Gouda? Sie hatte doch den Light-Käse in der Hand gehalten! Sie sah es noch genau vor sich, wie sie in den Karton griff und sich darüber freute, dass sie die letzte Packung ergattert hatte!
Wo kam nun diese Goudapackung her?
Kopfschüttelnd brachte sie den Käse wieder zurück, aber von dem leichten war nichts mehr da: Das ganze Regal war wie leergefegt.
„So ein Mist“, grummelte sie. Das hatte ihr nun noch gefehlt. „Okay, koch ich eben was anderes“, beschloss sie trotzig. „Kein Lightkäse, keine Zucchinicremesuppe, fertig.“
Insgeheim war sie schon froh. Nun „musste“ sie noch ein Weilchen hier bleiben, überlegen, was sie statt dessen kochte und dann die Zutaten dafür einkaufen. Das bedeutete, dass sie, bevor sie wieder in das dunkle Sturmwetter hinausmusste, dieses Intermezzo vergessen konnte. Oder zumindest verdrängen, bis sie bereit war sich darüber Gedanken zu machen.
Iona schlenderte weiter durch die Regalgänge und betrachtete die Ware, auf der Suche nach etwas, was ihr Appetit machen könnte. „Zu fettig. Zuviel Zucker. Das mag ich gar nicht, da ist zuviel Fett und zuviel Zucker drin“, urteilte sie ab und ärgerte sich selbst über ihre Unentschlossenheit. Sie hatte sich eben auf die Suppe gefreut. Bestimmt hätte sie auch den Gouda genommen, wenn kein Light-Produkt mehr vorhanden gewesen wäre, aber nach diesem Zwischenfall mit dem fremden Kerl wäre es ihr so vorgekommen, als würde sie zum Kauf des fettigeren Produktes gezwungen.
„Wenn ich Fett essen will, dann entscheide ich selbst, wann und bei welchem Essen ich das haben will“ murmelte sie aufsässig und kam sich ein bisschen albern vor. Eigentlich war das gar nicht ihre Art, aber die Stimme, dieses dominante Gehabe dieses Mannes weckte den Widerspruchsgeist aufs Ärgste in ihr.
Letztendlich entschied sie sich trotzig für eine Tüte Chips, und zwar die ganz fettigen scharfen, eine Cola-Xtra-large und nahm auch gleich noch Popcorn und ein Bigpack Schokolade dazu.
So ausgestattet lief sie zur Kasse und bemerkte erst beim Einpacken ihres Einkaufs, dass sie den Einkaufswagen hatte stehen lassen.
„Na gut, dann muss ich wenigstens nicht schwer schleppen“, murmelte sie und schob sich durch die am Ausgang ausharrende Menschenmenge. „Die paar Tropfen“, lästerte sie halblaut, „und schon traut sich keiner vor die Tür – die Welt wird immer verweichlichter…“
Mit einem Grinsen im Gesicht verließ sie das Einkaufszentrum, zog sich die Kapuze über den Kopf und stapfte los, durch den Schneesturm.
Schneesturm?
Fassungslos blieb sie stehen und starrte in das dichte Schneetreiben, das bereits eine ansehnliche Decke über die Erde gelegt hatte. Sie sank bis weit über die Knöchel darin ein. „Das kann doch gar nicht sein… so lange war ich doch gar nicht einkaufen!“
Wieder befiel sie dieses unheimliche Gefühl. Irgendetwas war im Gange, und sie ahnte, dass es nicht spurlos an ihr vorüber gehen würde.

Trotz der relativ leichten Tasche brauchte Iona lange um durch das überraschende Wetter zu kommen und entsprechend erschöpft war sie, als sie letztendlich bei sich zu Hause ankam. Mit klammen, zitternden Fingern nestelte sie den Schlüssel aus ihrer Manteltasche und bemühte sich, die Türe aufzuschließen. Das gelang ihr erst nach mehreren Versuchen, und die Kälte setzte ihr inzwischen heftig zu. Sie fluchte lauthals und störte sich nicht darum, ob die Nachbarn irgendetwas davon mitbekamen. Warum auch? Die waren ja kaum da, und wenn sie mal anwesend waren, waren sie selbst laut und scherten sich um keinen.
Wenn sie an die Geräusche dachte, die dann aus dem Haus kamen, schauderte es sie. Abrupte Wechsel zwischen schönen Harmonien, kreischenden Kakophonien und heavy metal waren an der Tagesordnung. Mittlerweile dachte sie überhaupt nicht mehr darüber nach, was die da treiben könnten. Ging sie ja auch nichts an.
„Aber dann sollen sie sich auch nicht um ein paar Kraftausdrücke am späten Nachmittag kümmern“, sagte sie mit extra lauter Stimme und grinste boshaft.

Da! Endlich ging die Tür auf und sie konnte sich dem Schnee und dem erbärmlich kalten Wind entziehen. Mit dem Fuß stieß sie die Türe hinter sich zu und pfefferte die Tüte mit ihrem exotischen Abendbrot in die hinterste Ecke. Der Trotzanfall im Supermark tat ihr mittlerweile leid, aber es ließ sich halt nicht ändern. Vielleicht würde sie sich doch noch etwas kochen, auch wenn sie gerade keine große Lust dazu hatte.
Die Tasche kam mit einem klirrenden Splittern auf dem Boden auf und sie fluchte noch einmal, diesmal aber über ihre eigene Dummheit. „Wie konnte ich nur die Colaflasche vergessen, so was Blödes!“ Immer noch über ihre eigene Gedankenlosigkeit schimpfend machte sie sich daran, die Schweinerei vom Boden zu entfernen. Natürlich war die Chipstüte aufgeplatzt und das Schokoladenpapier durchweicht – und somit war der ganze Einkauf dem Mülleimer geweiht. Nun musste sie kochen, ob sie wollte oder nicht.
„Nicht mein Tag heute“, murmelte sie vor sich hin. „Mieses Wetter, mieses Karma“, und schon musste sie wieder über sich selbst lachen. Mit einem verächtlichen Blick schmiss sie die Tüte mit ihrem ruinierten Dinner in die Mülltonne und kochte sich erst einmal einen Kaffee. Während das heiße Wasser in den Filter lief, riss Iona ihre Kühlschranktür auf und überprüfte den Inhalt. So wie es da drinnen aussah, würde sie nur Nudeln oder Reis für das Wochenende haben. Und die Zucchini… für die Suppe, für die ihr nun der Schmelzkäse fehlte.
Mitten in diese Gedanken klingelte es. Iona runzelte die Stirn. Wer konnte das sein? „Hilft nichts, sich Gedanken darüber zu machen. Geh hin, mach auf und du weißt es“, wies sie sich zurecht und lief zum Eingang, öffnete die Tür – und starrte den wildfremden Mann, dessen ungewöhnliche Jacke ihr irgendwie bekannt vorkam, entgeistert an:

Er war recht groß, schlank, sportlich – und trug in diesem Schneesturm einen nachtblauen Anzug mit einem dezenten Sternchenmuster, das sie noch nie vorher gesehen hatte – nur bei dem Zwischenfall im Supermarkt, als dieser Fremde ihr den Lightkäse hatte ausreden wollen. In den Händen trug er zwei Einkaufstaschen, die er ihr mit einem charmanten Lächeln entgegen hielt.

„Was wollen Sie denn hier?“ platzte es aus Iona heraus. Sie konnte den Blick nicht von diesem Lächeln abwenden, das von sehr sympathischen Gesichtszügen umrahmt wurde. ‚Grüne Augen und schwarze Haare’, schoss ihr durch den Kopf. ‚Das ist eine faszinierende Mischung…’
Zu faszinierend, beschloss sie und löste sich mit einem Ruck aus seinem Blick.
„Nun, da ich keine Antwort erhalte, gehe ich davon aus, dass Sie sich im Eingang irrten“, blaffte sie und wollte die Türe schließen, als sie die haargenau gleiche Stimme wie am Schmelzkäseregal freundlich unterbrach.
„Ich will nur die Lebensmittel bringen, die Sie im Center vergaßen, Lady“, lächelte er herzlich und schob sich an ihr vorbei, als hätte sie ihn auf eine Tasse Tee eingeladen.
Fassungslos lief sie ihm hinterher.
„Ich habe weder etwas vergessen, noch möchte ich wildfremde Menschen uneingeladen in meinem Haus sehen! Machen Sie, dass sie verschwinden!“ Ihr Tonfall war böse, unhöflich, und genauso wollte sie klingen. „Wenn Sie nicht sofort gehen, werde ich die Polizei rufen!“
Das Lächeln wurde sanft und verließ ihn nicht, während er begann die Ware aus den Taschen zu packen und in ihren Schränken zu verstauen. Sie starrte ihn an, während er scheinbar intuitiv ihre Ordnung kannte, denn er öffnete nicht ein einziges Mal den falschen Schrank.
„Zufall“, dachte sie sich und begann sich zu ärgern, dass er ihren Befehl einfach abtat und sich aufführte, als sei er bei sich daheim.
„Ich sah, dass Sie nach unserer netten Unterhaltung ein wenig verwirrt waren und daher Ihren Einkaufswagen verweist im Gang stehen ließen. Das tat mir leid, denn es lag nicht in meiner Absicht Sie einer solchen Konfusion auszusetzen. Ich wollte lediglich helfen.“ Er grinste sie entwaffnend an und setzte dann hinzu: „ Und da dachte ich mir: Iain, wenn du der Lady ihre Einkäufe bringst, wird sie sich freuen und du hast es wieder gutgemacht.“
„Gar nichts haben Sie! Ich war und bin nicht verwirrt, ich habe mich nur umentschieden“, schimpfte sie ihn an und wusste nicht, wie sie sich nun weiter verhalten sollte.
Ein enttäuschter Blick traf sie aus seinen Katzenaugen, die echte Betroffenheit wieder spiegelten.
„Sollte ich mich so geirrt haben? Nun, dann wird es Sie freuen, dass ich Ihnen zumindest Ihr für heute geplantes Dinner mitgebracht habe. Aufgeweichte Chips sind nicht wirklich schmackhaft“, lächelte er und stellte zum Abschluss eine neue Tüte der Chips, eine große Flasche Cola und exakt das richtige Bigpack Schokolade auf den Tisch. Erwartungsvoll strahlte Iain sie an, und wieder war sie vollkommen erschüttert. Woher wusste er…?
Iona riss sich zusammen und sagte dann entschlossen: „Okay, geben Sie mir den Kassenzettel, ich bezahle meine Schulden bei Ihnen und dann gehen Sie.“ Über dieses denkwürdige Zusammentreffen könnte sie auch später noch nachdenken, wenn sie wieder ihre Ruhe hatte.
„Den Kassenbon?“… hm… den habe ich nicht, leider“ erwiderte er in einem betont unschuldigen Ton, der seine Worte Lügen strafte. Dann hellte sich seine Miene wieder auf und er teilte ihr freudestrahlend mit, dass sie die Schulden ja bei ihm abarbeiten könne.
„So dachten Sie sich das, das war mir klar!“ rief sie aus, empört und enttäuscht darüber, dass sie ihn anscheinend doch richtig eingeschätzt hatte. Irgendwie war er so höflich und charmant, dass sie ihn beinahe mögen wollte – aber das war nun vorbei. Sie riss die Schränke auf und packte die Einkäufe wieder in die Taschen. „Sie nehmen diesen ganzen Kram jetzt wieder mit und verschwinden aus meinem Haus, Sie, Sie… Wüstling, Sie!“
Als sie das leise Lachen hörte, hielt sie inne und starrte ihn an. Das Lachen wurde lauter, bis er sich schließlich nicht mehr beherrschen konnte und laut herausprustete.
„Was gibt es da zu lachen?“ Sie drückte ihm die Taschen in die Hand und schob ihn in den Flur. „Los, gehen Sie, sofort!“
Iain blieb stehen und war auf einmal nicht mehr von der Stelle zu bewegen. Er setzte die Einkaufstüten ab und wurde ernst.
„Lady, ich verspreche Ihnen, dass ich nicht an diese Art der Bezahlung dachte, nicht einmal mit einem Wort. Ich habe ein Problem, bei dem nur Sie mir helfen können. Warum setzen wir uns nicht einfach bei einer Tasse Kaffee zusammen und ich erzähle Ihnen worum es geht?“
Der aufrichtige Tonfall und die Tatsache, dass sie wieder einmal vorschnell geurteilt hatte, veranlassten Iona nach einem kurzen Nachdenken zu einem knappen Nicken. Sie drehte sich um, lief zurück in die Küche, holte zwei Kaffeetassen aus dem Schrank und goss den eben frisch aufgebrühten Kaffee hinein, stellte Tassen, Zucker und Milch auf den Tisch und legte zwei kleine Löffel dazu. Die Routine übernahm die Hauptarbeit und ließ ihr Zeit, sich wieder zu fassen. Mit einem fast neutralen Lächeln setzte sie sich an den Tisch und lud Iain, der die ganze Zeit am Türrahmen angelehnt stand und sie beobachtete, ein sich dazu zu setzen.
„Bitte. Sie wollten mir etwas erklären.“

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Auf der Brücke

Die Flasche mit dem Cola-Schnaps-Gemisch neben mir ist ne reine Vorsichtsmaßnahme. Eigentlich brauch ich so einen Kram nicht, aber heutzutage kann man ja nie wissen. Was, wenn er nicht kommt? Unter mir donnert ein Zug über die Gleise, ganz so still ist es nun doch nicht, wie ich es mir immer ausgemalt habe, seit ich diese Zeilen las. Kaffee wollte er mitbringen, ich die Kippen und den Schlafsack. Na Gott sei Dank hab ich den Schlafsack, so ist es wenigstens warm. Und was zu trinken habe ich auch. Vier Uhr morgens, und ich warte.
Diese ganze Scheißwoche was schon so elendig gewesen. Der Chef hat nur gemosert, die Kollegin nur gekotzt, weil sie schwanger ist. Bestimmt nicht von ihrem Mann, der ist schon seit Monaten im nahen Osten, und der einzige Heimurlaub wurde wegen einer drohenden Vertragsstrafe gekippt, sie mussten da durcharbeiten, sagte sie. Er malocht und sie vögelt, gesunde Arbeitsteilung. Aber was solls, das ist nicht mein Problem, mein Problem ist, dass sie immer nach Kotze stinkt und nicht arbeitet. Und wenn ich dann nicht weiterkomm, dann motzt der Chef nicht mit ihr, weil dann nimmt sie sich gleich wieder einen Krankenschein, und dann kann sie noch nicht mal mehr das Telefon bewachen, na ja, zu mehr ist die eh nicht gut.
Nein, den ganzen Senf, den krieg ich dann immer ab, nur weil ich ihn nicht rangelassen hab auf der Weihnachtsfeier, als er stinkbesoffen mir aufs Klo folgte. OK, ich war aufm Herrenklo, weil ich’s bei den Weibern nie aushalte. Die brauchen so lange, stinken sich mit Parfum und Haarspray ein und labern nur hohles Zeug, und wenn ich dann mal pinkeln muss, dann wird mir in der Wartezeit speiübel, wie sie über alle da im Raum herziehen, das Privatleben von den Kollegen durchhecheln und sich selbst immer als die Tollsten und Besten hinstellen. Da geh ich halt lieber bei den Männern pinkeln, die meisten wissen das auch schon, und sie lassen mich in Ruhe, weil ich bin ja eh uninteressant für die. Die glauben alle, ich bin ne olle Lesbe, weil ich Hand in Hand mit meiner Sis übern Weihnachtsmarkt gelaufen bin, und ich lass sie. Solln sie mal, dann hab ich meine Ruhe vor denen. Aber der Chef, na der glaubte wohl, dass er mich bekehren müsste, oder es gab ihm nen Kick, wenn er ne Lesbe aufm Herrenklo vernaschen könnte. Mir egal. Ich hab ihm die Tür vor der Nase zugeknallt, hab in sein Gesäusel rein gepinkelt und abgezogen und bin erst wieder raus, als noch ein anderer Kerl aufgetaucht ist. Passiver Widerstand, Gandhi wär stolz auf mich gewesen, meine Mama auch.
Aber die redet ja nicht mehr mit mir, seit ich ihr gesagt hab, dass sie ne Schlampe ist. Na, ist doch wahr. Ständig laufen andere Stecher von ihr bei uns zu Hause auf, zu allen sollen wir “Guten Tag” sagen, am Besten nochn artigen Knicks machen? Neee. Nicht mein Ding. Und als ich wieder mal so nem Schwachkopp Bescheid gestoßen hab, dass er eh nicht so lange da sein würd wie ich brauch um “Guten Tag” zu ihm zu sagen, da ist sie ausgerastet. Wo’s doch die Wahrheit ist. Je nach dem ob noch ein Feiertag ist, bringt sie zwei bis drei Kerle inner Woche mit heim, also an jedem Abend, wo am nächsten Morgen frei ist, wieder nen Neuen. Und wir, meine Sis und ich sind dann schuld, wenn sie wieder abhauen. Die soll sich mal an den Kopf packen, und morgens in den Spiegel und die Küche gucken, welcher Kerl verschwindet denn bei solchen Anblicken nicht gleich wieder? Inner Küche die Spüle vonner ganzen Woche, und Batterien von leeren und halbleeren Schnapsflaschen stehen auf der Fensterbank rum. Und sie? Verschmierte Schminke, geschwollene Augen, die Haare auf halb acht und ne Kippe im Mund bevor der Kaffee durchgelaufen ist. Und der gesteppte Bademantel macht es auch nicht besser, der macht sie noch fetter als sie ist. Meine Sis und ich sollen aufräumen, sagt sie immer, bevor sie in ihre Stammkneipe geht. Machen wir aber nicht. Warum? Sie kocht nicht, und wir räumen nicht ihre Scheiße weg. Wenns ginge, würde ich noch nicht mal das Klo sauber machen, das wird von den Kerlen vollgepinkelt, ihr Spachtelzeug fliegt da überall rum und der Zement für die Haare verklebt den Spiegel.
Deswegen muss ich durchhalten, haben die aufm Amt gesagt. Wenn ich die Stelle diesmal nicht in den Sand setz, dann hab ich bald die Schulden beim Gericht wegen Körperverletzung abgezahlt und dann hab ich genug um mir ne eigene Wohnung zu nehmen. Scheiß-Alter. Erst jagt er mich und meine Sis zum Teufel, weil er mit seiner Ische in Ruhe vögeln will, und als uns dann die Bullen nach Hause bringen, brüllt er uns an, wo wir so lange gewesen sind. Und sie, die Trulla stichelt im Hintergrund. In die Erziehung soll er uns stecken, aber da hat sie Sand dran, die hab ich schon lang gefragt, aber meine Sis und ich sind nicht geeignet fürn Erziehungsauftrag. Und dann fängt sie an über meine Sis zu lästern, weil sie son bisschen langsam ist, maaan, die ist nun mal nicht die Hellste. Ich sag ihr, sie solls lassen. Aber sie wird immer gemeiner, und meine Sis fängt an zu weinen, stößt in ihrer Aufregung das Glas von der Tussi runter, war echt keine Absicht, hab ich genau gesehen. Aber die, die brüllt gleich auf, nennt meine Sis ne hinterhältige Kuh und schubst sie auf den Boden. Sauber machen soll sie, und da seh ich rot. Die Torte ist nu ein bisschen weniger schickimicki, die Haare hab ich ihr abgesäbelt mit dem Brotmesser, und naja, die Nase ist gebrochen, wird wohl auch nicht mehr so toll. Aber die Rippen sind wieder heil, das Luder war hart im Nehmen. Anwalt, Jugendamt, alle haben sie mitm Kopf geschüttelt. Aber innen Knast musste ich nicht, ich stand im “Zustand höchster Erregung”, als ich sie son bisschen hart rangenommen hab. Irgendwas an Tagessätze hab ich gekriegt, und meine Sis und ich wurden zu meiner Mom gesteckt. Die säuft zwar und hurt rum, aber was macht das schon, die Kerle sind harmlos, weil sie kriegen, was sie brauchen, und ich pass auf meine Sis auf.
Seit nem halben Jahr bin ich volljährig, und wenn ich die Kohle beim Gericht bezahlt hab, dann nehme ich mir ne eigene Wohnung, mit meiner Sis zusammen. Also muss ich nur noch durchhalten, darfs mir nicht wieder mit nem Chef verscherzen. Vielleicht lass ich ihn doch ran, bald ist Sommerfest und da müssen wirs wenigstens nicht aufm Klo treiben.
Hinter mir hör ich Schritte. Na endlich. Vier Uhr hat er gesagt, nun ist schon gleich viertel nach. Das treib ich ihm auch noch aus, das weiß ich. Wenn er meine Welt kennen lernen will, so wie er mir schrieb, dann bitte pünktlich. Da kann er noch so toll schreiben können, dass ich mir immer dumm vorkomm. Er verbessert mein Deutsch, und ich zeig ihm meine Welt, so ist die Abmachung. Nur den Chef ranlassen, das reicht halt nicht, um mehr zu kriegen, im Berufsleben. Die Schritte werden langsamer, ich dreh mich um und motz gleich los:” Dat nächste Mal bisse pünktlich, sons hau ich wieder ab!” Ich sag es extra so gewöhnlich, weil ich weiß, dass ihm das fast körperlich Schmerzen bereitet, wenn jemand so schreibt oder redet. Ich seh, wie er sein Gesicht verzieht, wow, sieht der gut aus. Schade, er ist verheiratet, und mit so was gib ich mich eh nicht ab. “Setz dich, wo isn der Kaffee?” Ich hebe den Schlafsack an, damit er mit drunterkriechen kann, das geht ganz gut, ich weiß das, denn ich bin klein und zierlich, und er ist nicht fett oder so, das hatte ich schon abgecheckt, damit wir nicht frieren müssen. So ein bisschen umständlich setzt er sich zu mir, schaut mich streng an und sagt: “So, meine Liebe, werden wir nie mit unseren Lektionen in gutem Ausdruck und Sprachgewandtheit vorwärts kommen, wenn du nur um mich zu strafen zurück in deinen alten Jargon fällst.” Er hat ja Recht. Aber heimlich grinse ich, denn ich weiß, dass er seinen Teil bekommen hat.
Was jetzt kommt, ist schon besser, das ist meine Welt. Die kenne ich in- und auswendig, und ich erzähle ihm, warum ich oft hier bin, dem Sonnenaufgang zusehe, dass sonst meine Sis dabei ist und wir die Stille und die Ruhe genießen. Dass wir dann träumen, von unserer Wohnung, unserer Zukunft, und dass ich es besser machen will als meine Eltern.
Und wie zufällig stoße ich an die Flasche mit dem Gesöff. Ich hab ja gewusst, ich brauchs nicht.
Kaffee schmeckt eh besser.

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gehen lassen…

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Wasser des Lebens

Still war es, still so wie der Raum, in dem das kleine Kerzenlicht seine flackernde Wärme auf die ihr so vertrauten Dinge warf. Die glatte Oberfläche aber trog, denn unter ihr glimmte ein bernsteinschimmerndes Glühen, bewegt durch die unstete Flamme.
Uisge beatha, Wasser des Lebens.
Sie starrte auf diesen brennenden Kern im Glas, rührte es nicht an um die Unruhe nicht zu forcieren. Wie sanft es aussah, wie klar und rein, trotz seiner sündhaft warmherzigen Honigfarbe: Kein Eiswürfel verunreinigte, kein Wasser verdünnte es, keine klebrige Cola machte aus ihm eine undurchsichtige Pfütze, die in ihrer Bedeutung nicht annähernd so viel wert war wie ein Fahrrad, das in Großbritannien neu lackiert wurde.
Still war es, nicht laut und lärmend, hektisch und anstrengend wie das Leben, dem es Wasser spendete. Oder war es anders gemeint? War dieser Whisky die Essenz des Lebens: In Fässer gefüllt und dort die Ruhe und Reife erlangend, die ein Mensch im Alter erst finden mag und dennoch…. ein Brennen, ein leises Glühen der Sehnsucht wohnt im Inneren: Die Bittersüße, die der Reifeprozess mit sich bringt?
Still war es, und dennoch so vielsagend, wenn man sich nicht nur dem Geschmack öffnete, den Geruch einatmete. Wenn man hinsah, in diese ruhige Gelassenheit, diesen hypnotisierenden Kern wahrnahm und auf sich wirken ließ.
Uisge beatha, Wasser des Lebens.
Tödlich für die, die darin ertrinken, kurzfristig Mut und Kraft spendend für die, die es gezielt einsetzen, immer Gefahren bergend und dennoch die Sinne anregend – wenn man das Maß kennt. Gleich einem heißen Bad, in dem man zu lange weilt, ist auch ein zu langer Genuss nicht ratsam. Gleich den Wogen des Meeres, wenn sie über einem zusammenschlagen, ist ein zu tiefer Blick ins Glas betäubend, macht hilflos: erst wirbeln die Gedanken, schließlich aber lähmt das Zuviel an Wasser die Funktionen bis hin zum Tod, und nur wer stark genug ist, wird hart genug kämpfen können, um ihm – vorerst – zu entgehen.
Leben und Sterben, in all seinen Facetten. Uisge beatha, in all seinen Farben.
An diesem Punkt angelangt, nahm sie das Glas in ihre Hände, ließ die Flüssigkeit in ihm hin und her schwenken – sorgsam darauf bedacht, nicht einen Tropfen zu verlieren. Überschwang – etwas, wo man verliert? Zumindest seine Contenance… Die bewegte Oberfläche ließ den Duft frei, der dem Single Malt so eigen war. Der Geruch von Eichenfass wurde von der ihm so eigenen, honigartigen Note eingerahmt, ein wenig Schokolade und Gewürze wie Ingwer und auch eine grüne Pfeffernote rundeten das Bild ab, das sich ihrer Nase bot. Viel zu schade um einfach drauf loszukippen, und so schloss sie die Augen, führte das Glas noch näher an ihr Gesicht. Sie spürte förmlich, wie die Sinne sich weiteten, die Synapsen nahmen die feinen Nuancen an sich und spielten mit ihnen: Mal tauchte die Pfeffernote unter, vereinigten sich Ingwer und Honig zu einem Paar der Sinne, dann wieder gewann der Eichenfassgeruch die Oberhand, so als wollten sie necken, Versteck spielen, sich erneut entdecken lassen von ihr, die hier saß und immer noch versuchte, sich zu erklären, warum sie diese uralte Flasche geöffnet hatte.
Einen speziellen Grund gab es eigentlich nicht: Sie hatte keine schwere Prüfung bestanden, hatte weder den Beginn noch das Ende einer besonderen Zeit zu feiern, keine ihr bekannte Mutter hatte entbunden – es gab keinen guten Geschäftsabschluss oder sonst einen feierlichen Anlass. Auch Trauer oder Erinnerung schieden aus, oder zumindest war ihr so – sie war einfach aufgestanden und hatte die Flasche aus dem Regal gezogen, die dort als Sammlerstück zwischen Mineralwasser und Säften sowie einigen Rotweinflaschen vor sich hin staubte, ohne Zögern hatte sie genau diese Flasche gewählt, auf ihren üblichen Tee verzichtet und statt dessen das einzige standesgemäße Whiskyglas aus dem Schrank geholt, ein uraltes Erbstück, das ihr ein Freund vermacht hatte.
Alexander… kein üblich schottischer Name, seine Eltern wählten ihn aufgrund ihrer Affinität zu Alexandre Dumas: zum einen wegen seinem Meisterwerk „Der Graf von Monte Christo“ – zum anderen aufgrund seines Werkes „Das große Wörterbuch der Kochkunst“, in dem er sehr unterhaltsame Anekdoten über die internationale Küche zum Besten gab und so zum Genuss, zum eigenen Kochen anregte. Sie war Alexander mehr zufällig begegnet, auf einem der bekanntesten Mittelalterfestivals von good old Germany, dem „Peter- und Paul-Fest“ in Bretten, einer kleinen Stadt im Badischen. Fiona, aufgrund ihres Namens in der Schule oft arg gebeutelt, hatte aus der Not eine Tugend gemacht. Sie fing irgendwann an sich für alles Schottische zu interessieren, lernte aus Trotz gälisch und englisch und fing später an, Geschichte zu studieren, spezialisierte sich auf Schottland. Den konventionellen Gelehrtenberuf scheuend konzentrierte sie sich dann mehr darauf, auf Mittelaltermärkten und -Festen Stände anzubieten, an denen sie dann selbst hergestellte alte Spezialitäten der Schotten darbot: Ente mit Orange, Schwein mit Apfel, Hase mit Beeren und Thymian, Hirsch mit Aprikose und andere schmackhafte Kombinationen fanden genauso hohen Anklang wie der traditionelle Haggis und – um die „Teatime“ herum „Bannocks“, kleine Küchlein mit Karotten, Ingwer, Kokos oder Schokolade. Sie hielt natürlich auch Whisky bereit, ebenso verschiedene Teesorten und selbst hergestellte Säfte, so dass für jeden neugierigen Geschmack etwas dabei war. Dazu verkaufte sie Broschüren über das Leben im mittelalterlichen Schottland, bot selbst gefertigte Tartans und Quilts an – sie hatte ihr Auskommen, und das mit ihrer heimlichen Leidenschaft. Mehr, als andere über sich sagen konnten.
Alexander wurde zu ihr quasi durchgereicht, weil er kein Wort Deutsch sprach und völlig verloren durch die Gassen lief, mit seinem breiten schottischen Akzent auf die Festivalbesucher und die Schausteller einredete – und keiner konnte ihm helfen. Da Fiona damals schon genug eingenommen hatte, schloss sie spontan ihren Stand und half Alexander, sich in diesem Tohuwabohu zurechtzufinden. Sie verbrachten das ganze Wochenende miteinander, erzählten sich gegenseitig etwas von der Kultur des anderen – denn so gut sie sich in Schottland auskannte: Ihre eigene Geschichte hatte Fiona nie interessiert.
Beim Abschied hatten sie ihre Anschriften ausgetauscht, und so begann eine lockere Freundschaft, die mit den Jahren immer tiefer wurde. Er sandte ihr damals diese Flasche Whisky aus einer Privatbrennerei. „Für einen besonderen Moment in Deinem Leben“, schrieb er.
Nun, irgendwie schien dieser Moment gekommen, auch wenn sie noch keinen blassen Schimmer hatte, was denn zur Hölle an diesem Moment so besonders sein sollte. Was war nur in ihr vorgegangen, als sie diesen Sinnesschmaus herauszog, so sicher, dass dies genau das Richtige an diesem Abend war, als Abschluss eines eisig kalten Winterabends, an dem das Regenwasser in den Pfützen fror, die ersten Flocken langsam eine sittsame Decke über die spiegelglatten Flächen zogen und der zwar ruhige, aber stete Wind daran erinnerte, dass es Zeit war, Zeit für die ersten Mützen in diesem Jahr…
Nichts war anders als sonst. Sie hatte einen ruhigen Samstag verbracht, ganz in Ruhe. Im Winter waren ihre Termine spärlich gesät und fanden hauptsächlich in der Woche statt: Koch- und Webkurse in Abendschulen, gelegentlich eine Party ausrichten, Vorträge halten, Reiseberichte für einschlägige Zeitschriften verfassen – nichts, aufgrund dessen sie sich nicht den Samstag frei halten konnte. Und so beging sie ihre Entspannung immer an dem Tag, an dem sich andere auf den einzigen allgemeingültigen freien Tag vorbereiteten: Sie schlief lange, bereitete sich ein ausgiebiges Frühstück, verbrachte den halben Tag im Badezimmer, bis es Zeit wurde für ihre kleine Wanderung: Die Dünen hinauf, bis sie auf dem höchsten Punkt stehend einen freien Blick auf das Meer hatte. In diesen kalten Zeiten zerrte der Wind mit einer eisigen Strenge an ihr, schob sie förmlich hinunter an den Strand, und sie ließ sich willig hinunter treiben, folgte dem kleinen Pfad, der sie dorthin zwang, wo sie selbst liebend gerne war. Oft lachte sie dem Wind entgegen und rief ihm zu, dass es so sei, als würde er Eulen nach Athen tragen… aber dennoch liebte sie es, genoss diese rigorose Gewalt, die in ihm steckte, wenn er sie zu ihrer anderen Art des Lebenswassers drang.
Mehr noch als der schottische Whisky war das Meer ihr persönliches Wasser des Lebens, gab ihr Kraft und Seelenruhe. Die Gezeiten, die in steter Wiederkehr für eine gewisse Regelmäßigkeit sorgten, die Brandung, der sich ihr Herz in seinem Rhythmus anpasste, die Weite, nur unterbrochen durch große Schiffe, die am Horizont so winzig klein wirkten… Das Spiel der Wolken, das ihre Phantasie immer wieder aufs Neue anregte, die Schreie der Möwen, das Wasser, das ihre Spuren nur zu schnell verwischte und ihr die Vergänglichkeit immer wieder aufzeigte – es war zuviel, zuviel um all das aufzuzählen, was sie so faszinierte, sie immer wieder hier her zog. Es war wie eine Oase der Menschenleere, der Natur, und das in einer Welt, in der immer mehr das Künstliche und weniger das Kunstvolle, in der statt Einmaligkeit eine Wegwerfkultur gepflegt wurde, in der mehr auf ein Bonmot als auf ein gutes Wort gegeben wurde – es war Balsam auf ihre menschenfeindliche Seele. Trotz ihres Berufs, der sie immer wieder mit Menschen in Kontakt brachte, trotz ihres kleinen Freundeskreises hielt sie nicht viel von ihrer eigenen Spezies.
„Wir haben den Bezug zu uns verloren, Alex“, erklärte sie einmal ihrem guten Freund. „Wir leben in Menschenmassen und sehen den Einzelnen nicht mehr. Wir reden zu selten über Wichtiges, dozieren zu laut über Banales, lästern zu viel über Andere. Aber zu selten unterhalten wir uns wirklich miteinander, achtungsvoll, respektvoll, nachdenkend und nachhaltig. Wir schwätzen daher, statt zu handeln, und wenn wir es endlich tun, ist es zu oft blinder Aktionismus. Der eigene Vorteil rückt immer mehr in den Vordergrund, und die, deren Ellbogen zu schwach, zu weich ausfielen, fallen durch das Raster. Leistung zählt, nicht mehr das Teamwork – und die, die sie nicht bringen können, verzweifeln, resignieren statt um eine bessere Welt zu kämpfen. Also hat man die Wahl zwischen den überheblichen Siegertypen, denen, die sich um nichts Mühe geben und denen, die irgendwann erschöpft aufgeben, weil sie sich selbst aufgerieben haben im Kampf gegen die berüchtigten Windmühlenflügel … diejenigen, die ein gesundes Mittelmaß zwischen Selbstverwirklichung und Hilfsbereitschaft gefunden haben, die in sich ruhen und dennoch nach außen schauen – die sind so selten geworden. Zu selten.“
Alexander hatte ihre kleine Ansprache nickend angenommen. Er selbst war zwar anders, kontaktfreudiger, sah lieber das Gute im Menschen, aber er respektierte ihre Ansicht ohne sie dazu bringen zu wollen, anders zu denken. Das machte ihn so wertvoll als Freund. Gelassen nahm er sie hin, so wie sie war – distanziert, desillusioniert, pragmatisch und dennoch warmherzig, hilfsbereit und voller – wenn auch eigenem – Humor.
Nach ihrer Wanderung kam sie dann zurück in die nachmittägliche Ruhe ihres Heims, eine kleine Souterrainwohnung im Haus ihrer Freundin. Sie stapelte ein paar Holzscheite im Kamin auf, zog sich ihren Hausanzug an und kuschelte sich auf ihrem kleinen Sessel ein, nicht ohne vorher eine CD mit schöner Musik aufgelegt und eine Tasse Tee oder Kakao gekocht zu haben. Dann lauschte sie. Dem Knacken des Holzes, dem Prasseln der Flammen, die Geräusche des nahen Meeres, den Klängen der Musik – all das verband sich, wurde eins und ließ Sinne und Körper nach der Anstrengung des Nachmittags am Meer zur Ruhe kommen.
Manchmal warfen die Flammen dann Schatten auf den Boden vor ihr, gaukelten ihr vor, dass dort jemand stünde, eine Gestalt aus ihrer Vergangenheit, auferstanden durch ihre Erinnerung und ihre traumähnliche Verfassung. Meist waren es Menschen, an die sie gerne dachte. Dann schloss sie die Augen und feierte ein Fest der Erinnerungen, wanderte über den Pfad der Zeit an andere Orte, an denen sie ihnen begegnet war. Oft erinnerte sie sich noch genau an Details kleiner Begebenheiten: Das Wetter, der Klang des Lachens, die unfreiwillige Komik einer Begegnung, Augenblicke, Gefühle, kleine Gesten – die Bäume, Häuser in der Umgebung, ganze Sätze, Wort für Wort kamen ihr wieder in den Sinn, und lächelnd durchlebte sie diese Momente noch einmal. An düsteren Tagen konnte es auch geschehen, dass die Schatten eher bedrückende, bedrohliche Gestalten heraufbeschworen. Dann wurde ihr kalt, und sie fror trotz Feuer und warmem Getränk. Dann hielt sie die Augen geöffnet, und sprach zu diesen Gestalten. Nein, sie ließ sich nicht verjagen, nicht in ihren eigenen vier Wänden. Sie sprach laut und kühl mit ihnen, sagte ihnen die Meinung, über ihr damaliges Verhalten und darüber, was sie davon hielt, dass sie einfach so auftauchten, ungewollt, unerbeten, ungeladen. Auch das erhielt ihr den Frieden, den sie mit sich selbst gemacht hatte, ließ sie in sich ruhen.
Schlimm wurde es nur, wenn die Schatten diejenigen zeigte, die sie verlor, gegen ihren Willen. Diejenigen, die sie vermisste, mit ihrem ganzen Herzblut. Dann starrte sie auf diese schemenhaften Figuren, stumm, zu keinem Wort fähig, und die Tränen liefen still über ihr Gesicht. So viel hätte sie noch zu sagen gehabt, aber ehe sie auch nur die Sprache wiederfand, hatten sich die traurigen Begleiter des Halblichts abgewandt, drehten ihr den Rücken zu. Dann sprang sie auf, rief lauthals „Warte!….“ und merkte selbst im ersterbenden Ton ihrer Stimme, dass es wieder einmal zu spät war: Sie erreichte sie nicht, diese Menschen, die ihr so ans Herz gewachsen waren, dass ihr Verlust ein ausgefranstes Loch hinterließ: Schreiende, stumme Leere, dieses hilflose Gefühl, das einen oft genug überkommt, wenn das Herz so voll war, dass es den Mund verstopfte.
Aber all das war nicht gewesen an diesem Nachmittag. Sie hatte den Klängen von Schiller gelauscht, ihre Gedanken waren auf eine eigene Reise gegangen, eine Sightseeingtour durch die Räume ihrer Seele – und alles war an seinem Platz gewesen, nichts war ungeordnet, chaotisch, alles war genau so gut, wie sie es vorfand.
Also hatte sie im Anschluss an ihre Ruhestunde mit ein, zwei Freunden telefoniert und sich gemütlich ein leichtes Abendessen zubereitet, das sie nun mit einem Schlummertrunk hatte beschließen wollen.
Und nun saß sie hier, mit diesem Glas in der Hand, wunderte sich über sich selbst und die spontane Wahl ihres Getränkes.
Uisge beatha, Wasser des Lebens.
Den Tag Revue passierend, stellte sie fest, dass nichts aus diesem Tag etwas so Besonderes gewesen war, was diesen seltenen Tropfen zu genießen rechtfertigen würde.
Und so überlegte sie, das Glas betrachtend, das in ihren Händen lag, dass dies auch vielleicht gar nicht notwendig war. Der Genuss dieses Whiskys an sich war doch schon besonders genug, warum ihn schmälern mit einem Grund?
Still war es, still war dieser Raum, in dem das kleine Kerzenlicht seine flackernde Wärme auf die ihr so vertrauten Dinge warf.
Und so führte sie langsam, den Moment auskostend, das Glas an ihren Mund, roch noch einmal an dem einzigartigen Aroma, das ihre Sinne bereits berauschte, setzte den Rand an ihre Lippen und trank einen Schluck.
Zuerst schmeckte sie die angenehme Schärfe des Eichenfasses auf ihrer Zunge, die sich dann mit einem Rosinenaroma vermischte. Sie ließ die Flüssigkeit
auf der Zunge warm werden, stieß die Atemluft über die Nase aus und schmeckte die leichte, blumige Süße, die das Feuerwerk in ihrem Mund abrundete. Lange, so lange, bis sich der Gaumen an den Geschmack und das sanfte Brennen gewöhnt hatte, ließ sie den Schluck in ihrem Munde ruhen. Erst dann schluckte sie mit einem leisen Bedauern die Flüssigkeit herunter, verfolgte, wie der Geschmack an Süßigkeit zunahm und der Honig aus dem Sinnesfest hervor blinzelte.
Es schien fast schon zu schade, noch einen zweiten Schluck zu nehmen, denn eine solche Erfahrung erlebte man nur einmal in seinem Leben. Ein besonderer Anlass? Ja. Den hatte es gegeben. Der besondere Anlass des Genießens, einfach nur um des Genießens willens.
Uisge beatha, Wasser des Lebens, rein, pur getrunken.
In einem Moment des reinen, puren Lebens.

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Lösungen

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haute cuisine

    Auf der AnRichte
    wurde ein Gericht
    angerichtet
    der Richter
    stieß den AnRichter
    gegen die AnRichte
    dadurch war das Gericht
    nicht mehr angerichtet
    sondern das hohe Gericht
    hatte was angerichtet….

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Jahrestag

Der Regen prasselt auf das Parkdeck und füllt die Pfützen von gestern wieder auf. Da, wo wir immer rauchen gehen, ist es wenigstens halbwegs trocken, aber sitzen kann man da nicht. Was macht das schon. Ich sitze ja eh’ den ganzen Tag am Schreibtisch, da kann ich in der Pause auch mal stehen. Meine Handgelenke jucken, da, wo die Verletzungen der vergangenen Woche heilen. Ich puste ein paar mal den Zigarettenqualm drauf, aber das kommt irgendwie nicht so gut, also lass ich es wieder. Zwei Monate hab ich da noch Spaß dran, meinte der Arzt, und ich frage mich, ob er weiß, dass das ein Nichts ist gegen das Jahr, das ich nun schon ohne Dich aushalte.
Woher sollte er das auch wissen.
Niemand weiß das, noch nicht einmal Du. Ich habe Pizza bestellt, aber die lässt auf sich warten, und die Kaugummis helfen auch nicht gegen den Hunger nach Dir. Dieses leere, hohle Gefühl habe ich seit Neuestem immer, gleich ob ich es satt habe oder wieder mal merke, dass ich den ganzen Tag noch nichts gegessen hab. Es ist auch gleich, denn wie auch immer ich versuche, meinen Gefühlen das Maul zu stopfen, es gelingt mir nicht, immer weisen sie mich auf die Lücke hin, die Du hinterlassen hast.
Pizza, ach ja.
“Pizza Amore”, mit Artischockenherzen, damit ich wenigstens einmal ein bisschen Liebe genießen kann. Ich hasse Artischockenherzen. Ein Salat wäre mir jetzt lieber gewesen, aber was tut man nicht alles für die Liebe? Und nach „Insalata Capriciosa“ war mir nicht, schon rein dem Namen nach. An einem der Autos auf dem Parkdeck blinkt immer eine der Leuchten auf. Der Besitzer ist nicht in der Nähe und trotzdem blinkt da was. Wenn der nachher zu seinem Wagen kommt, ist bestimmt die Batterie leer. Warum zum Teufel sind diese Wagenbauer nicht mal in der Lage, dieses Blinken in den Griff zu kriegen? Immer dunkler werden die Wolken über mir, die Tropfen sind schon recht massiv. Ausdrücken muss ich die Zigarette bestimmt nicht.
Ich würde jetzt gerne Deine Stimme hören.
Aschenbecher werden bei uns an die Wand genagelt, dieser hier sieht wie ein missglückter Briefkasten aus, anstelle eines Briefschlitzes ist auf der einen Hälfte ein Gitter angebracht, auf dem man die Zigaretten ausdrücken kann. Auf der anderen Seite ist dann ein Schlitz für die ausgedrückten Kippen. Letztens hat ein Briefkurier einen Umschlag dort deponiert, und ein noch glimmender Stummel hat den Brief in Brand gesetzt. So kann’s auch gehen – so wies Leben halt, irgendwann geht alles ab in den Kasten, return to sender.
Ich drücke meine Kippe doch aus und schleich mich über den Flur wieder zurück, mal sehen, wann meine Liebe geliefert wird.
Rauchen ist im Büro verboten, ist ja ungesund. Pausen durchmachen, Stress durch zu wenig Arbeitskräfte, missverständliche und widersprüchliche Chefentscheidungen, Essen zwischen Tür und Angel: nicht. Vor allem Traurigkeit, die ist ok, solange wir lächeln und arbeiten. Mein kleiner Bruder hat mir einen Pinguin von McDoof geschenkt, wenn man den wirft, sagt eine Stimme immer: „Aaaah – ha! Lächeln und Winken, Männer, Lächeln und Winken!“ So oft hab ich dieser Stimme schon gesagt, dass sie Pech gehabt hat, dass ich kein Mann bin und bestimmt nicht auf Anweisung lächeln werde. Den Pinguin scheint das nicht zu interessieren, ebenso wenig meinen Chef, dass meine gute Laune nicht vertraglich vereinbart ist.
Lächeln kostet Aufschlag, nur Höflichkeit ist im Preis inbegriffen.
Der Kaffeeautomat rückt mal wieder keinen Kaffee raus, mein Geld gibt er auch nicht zurück.
Die Kollegin hat wieder das Parfum aufgelegt, wovon mir so übel wird. Am Besten rede ich doch mal mit ihr, bis jetzt hat mir das alles nichts ausgemacht, aber da waren wir ja auch noch nicht in einem Büro zusammengepfercht. Und ich dachte immer, Käfighaltung sei verboten. Doch das scheint nur bei Geflügel so zu sein. Da bekommt der alte Schlager wieder eine ganz aktuelle Bedeutung…
Heutzutage darfst Du kein Schwein sein, sondern froh und glücklich darüber, wenn Du ein Huhn bist. So lange Du immer schön brav und produktiv bist, und täglich mindestens ein Ei legst, kommst Du nicht in die Suppe. Im Ausschnitt meines Pullovers hängt irgendwo ein Haar herum, kitzelt meinen Brustansatz bis zum Wahnsinn und ich wünschte, es wäre Deine Hand.
Ein Blick aus dem Fenster zeigt, dass die Wolken sich leer regnen, zumindest zeitweise wird’s gleich trocken sein, davon bin ich überzeugt. Wenigstens so lange, bis ich losfahren muss. Mairegen soll ja schön machen. Mir hat er noch nie geholfen, und mittlerweile ist es auch schon Juni. Himmel, wie oft haben wir über solche peinlichen Binsenweisheiten herumgealbert, sie bis zur Unkenntlichkeit verzerrt und verdreht, so dass sie beinahe tatsächlich einen Sinn bekamen.
Nur bei uns, da hat das nie geklappt. Da ist es sinnlos geblieben, von Anfang an und bis in alle Zeiten.
Einen Sinn kann ich in dem, was ich hier zu tun habe, auch nicht entdecken, nur dass es Geld einbringt und meine Miete sichert, und noch Einiges mehr. Dafür aber acht Stunden hier absitzen mit garantiert einer halben Stunde Pausenabzug für eine Pause, die meist nicht gemacht werden kann, das zieht ganz schön runter. Meine Welt ist das nicht, aber Welten gibt es so viele, und meine findet selten Berührungspunkte zu Anderen. Inmitten einer Weltenmenge bin ich immer noch abgeschirmt, mein Schutzschild ist intakt und wird immer wieder nachmodifiziert, und solange ich mir keinen Virus einfange, werde ich wohl unberührt weiter durchs Leben kommen. Viren sind kleine häßliche Dinger, die können einem echt das Leben kosten. Ich hätte gerne von Dir gekostet, nur stehe ich schon so lange unter Quarantäne, dass das Leben zwar noch meins ist, allein, es hat mich eben vergessen. Aus den Augen, aus dem Sinn.
Ich wäre so gerne blind, manchmal.
Blind sein hat seine Vorteile, auch wenn wir alle immer mitleidig an den Leuten mit der gelben Binde vorbeiziehen. Man hat das Elend nicht so vor Augen, muss niemanden grüßen und kann seinen eigenen Gedanken nachhängen, ohne dass die einer am Blick erkennen kann. In meinen Augen kann man lesen wie in einem aufgeschlagenen Buch, hast Du immer gesagt. Und ich, ich wusste nie, woran ich gerade bei Dir bin. Endlich Feierabend, und endlich kann ich mich in die Badewanne zurückziehen. Kerzen stecke ich keine mehr an, und auch die Musik habe ich mir abgewöhnt, sie ist zu laut und lenkt meine Gedanken ab von den Buchstaben meines Buches, die sich nicht mehr zu Worten, ganzen Sätzen zusammenfügen lassen. Bestimmt liegt es an mir.
Zwei ganze Jahre nun schon.
Und noch immer kann ich mir ein Leben ohne Dich nicht vorstellen.

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Pinguine…

♫♪ Vor ein paar Tagen ging ich in den Zoo… ♪♫

So könnte dieser Eintrag beginnen, aber nein. Wir waren weder im Zoo noch suchten wir dort den leeren Käfig der Freiheit auf.

Wo wir waren? Gar nicht weit von uns entfernt, in der nächst größeren Stadt ist ein kleiner Tierpark, der zwar nicht viele, aber doch eine feine Auswahl an Tieren hat, denen er in sorgsam gestalteten Gehegen Lebensräume bietet.

Der Park an sich ist groß, in der Mitte ein See, der einer Menge Wassertiere Platz bietet und von den Besuchern umwandert werden kann, die Tiergehege und –Häuser werden immer wieder von Spielplätzen und Tierstreichelflächen unterbrochen, die den Kindern immer wieder eine Pause zwischen den enormen Erfahrungspaketen ermöglicht.

Da wir an diesem Tag nur wenig Zeit hatten, verbrachten wir den Großteil der Zeit (neben dem obligatorischen Eis und dem Spielplatzbesuch) bei den Brillenpinguinen. Eine recht freche Bande, die die absoluten Lieblinge der Besucher sind. Warum das so ist, stellte sich uns gleich nach unserer Ankunft dar:

Sie hüpften ins Wasser,

genossen dort mit ausgebreiteten Flossen ihr Bad,

betrieben Gefiederpflege,

umkreisten einander,

spielten

und rauften, neckten sich…

und steckten damit andere an, die neugierig das Spiel im Wasser beäugten.

Die sprangen dann beherzt hinterher…

oder testeten erst einmal mit dem Schnabel die Wassertemperatur.

Eines der Weibchen hatte sich in der Bruthöhle verkrochen und schaute von dort aus dem lustigen Treiben zu.

Der Denker der Gruppe….

Und noch ein Anblick von oben, bevor es Zeit wurde zu gehen.

Aber: Wir versprachen uns, ganz bald wieder herzukommen….

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